Haben Sie schon mal ihren Staubsauger mehrstimmig singen gehört?
Die verschiedenen Klänge, die die Kaffeemaschine erzeugt? Den Mixer?
Oder haben Sie Schwierigkeiten, einen Ton, den man Ihnen vorsingt, „richtig“ nachzusingen?
Vielleicht sind Sie nicht überdreht oder unmusikalisch, sondern einfach „naturtonhörig“?
Vielleicht hören Sie einfach Obertöne?
Ein Naturton kommt niemals allein
Über jedem Ton, den wir hören, schwingen Töne mit, die zu hören wir weniger geübt sind und deren Existenz sich uns nicht aufdrängt. Jedes Geräusch, jeder Ton, erzeugt solche Töne, die wir hören können, wenn wir die Ohren öffnen. Es sind die sog. Obertöne oder Naturtöne. Sie schwingen in unendlicher Zahl und in bestimmten Frequenzabständen auf dem Grundton. Da die Reihe („Naturtonreihe“) unendlich ist, schwingen auf einem Grundton theoretisch alle Töne unseres Tonsystems; sie entstehen alle über diesem einzigen Ton.
“Ein Ton enthält alle Symphonien Beethovens, alle Sonatinen Mozarts und alle Muotataler Jüüze.” (Peter Roth / Vortrag Jodelsymposium 2011)
Die Vorstellung dieser Ganzheit war und ist noch immer wesentlicher Bestandteil ritueller Musik. Bis ins 18. Jahrhundert hat sie das gesamte musikalische Schaffen in Europa geprägt.
Das Wohltemperierte ist noch jung
Es ist erst knapp 250 Jahre her, dass in Europa die chromatisch-temperierte Stimmung eingeführt wurde. Sie ersetzte die Jahrtausende alte Naturtonreihe durch eine gleichmäßige Temperierung – also 12 völlig gleiche Halbtonstufen in einer Tonskala. Die „wohltemperierte Stimmung“ ist ein artifizielles Produkt und nirgendwo vorgegeben, weder physikalisch noch physisch: in der Natur gibt es solche Tonstufen nicht. Trotzdem hat sie die Naturtonreihe in Europa und – durch die Kolonisierung – in vielen anderen Teilen der Welt verdrängt. Seit damals gilt die Naturtonreihe als „primitiv“, archaisch.
Es gibt allerdings Instrumente und musikalische Traditionen in Europa, die sich nicht an die neue Temperierung anpassen ließen, allen voran das Alphorn.
Das Naturtönige wieder beleben
Mit unseren Workshops und mit dem Berliner Naturton-Festival im April 2012 hoffen wir, einen Beitrag zur Wiederbelebung des naturtönigen Musizierens zu leisten. Denn das Singen und Musizieren im Naturtonsystem ist eine Erweiterung des abendländischen Tonsystems. Und da jeder Ton ganz bestimmte Regionen in unserem Körper zum Schwingen bringt – wer weiß, was das geheimnisvolle Naturton-Fa in uns zum Leben erweckt?
© von Ma-Lou Bangerter und Ingrid Hammer
Fotos von Kanella Tragousti und Anja Weber